Akademische Veranstaltung am INSTITUT DE FRANCE
Elend gibt zu denken
Zwei Personen aus der Schweiz, eine Forscherin und ein Basismitglied der Bewegung ATD Vierte Welt haben am 4. Juni 2018 in Paris an einer akademischen Veranstaltung der neuen Stiftung Joseph Wresinski am Institut de France das Wort ergriffen
Es wurden Fragen behandelt, die uns aktuell in der Schweiz beschäftigen: - Wie kann die Geschichte der ärm-sten Einwohner als Teil der Landesgeschichte anerkannt und erzählt werden? - Wie eine gemeinsame Sprache finden, um von erlebter Gewalt zu reden? Joseph Wresinski hatte diese Fragen schon 1983 am Institut de France in Paris aufgeworfen. Er unterstrich, dass man den Armen eine Ge-schichte und ein Wissen aufzwingt, worin sie sich nicht wiedererkennen, sodass ihnen nichts anderes übrigbleibt als „zu glauben, sie hätten weder Erfahrung noch Verstand“. Dieser Text diente dem Treffen vom 4. Juni als roten Faden. André Vauchez, Historiker, moderierte eine erste Gesprächsrunde zum Thema „Mit der Erinnerung der Übergangenen die Geschichte überdenken“.
Nelly Schenker, Autorin des Buches „Es langs, langs Warteli für es goldigs Nüteli“, packte die Zuhörer mit ihren Schilderungen: sie sprach von der institutionellen Gewalt, der sie in ihrer Kindheit und Jugend ständig ausgesetzt war, von der offiziellen Anerkennung dieser Gewalt durch die schweizerische Regierung und auch von ihrer Auseinandersetzung mit den amtlichen Akten, in denen etwas ganz anderes steht, als was sie selber erlebt hat. Evelyne de Mevius, Doktorandin in Philosophie an der Universität Genf, zeigte einen Weg auf vom „selber schuld“ zur Anerkennung als Opfer und schliesslich zu echter Wiedergutmachung: nämlich handeln zu können, damit solches Unrecht aufhört.
Axelle Brodiez-Dolino, Historikerin des französischen nationalen Zentrums für wissenschaftliche For-schung, sprach von ihrer Forschung zur Geschichte der Bewegung ATD Vierte Welt und ihrer Wirkung. Yves Marie Bercé, ebenfalls Historiker, be-schrieb, wie Mütter im Lauf der Jahrhunderte ihren weggegebenen Kindern etwas zu übermitteln versuchten.
Mireille Delmas Marty, internationale Juristin, leitete die zweite Gesprächsrunde: „Über eine gemeinsame Welt nachdenken“.Alain Supiot, Professor für Arbeits-recht am Collège de France, führte aus, wie die gegenwärtige Tendenz, alles auf Wirtschaftlichkeit und Zahlen zu reduzieren, einer Verbindung des Wissens der direkt Betroffenen mit dem Wissen der Gelehrten zuwider läuft, was eine Form von institutioneller Gewalt darstellt.
Martine Le Corre, Basismitglied von ATD Vierte Welt in der Generaldelegation, stellte dar, wie akademisches Wissen sich mit dem Wissen, das im Widerstand gegen das Elend gründet, verbinden kann, sofern es gelingt, aus dem Paternalismus auszubrechen und zu einer echten, anspruchsvollen Gegenseitigkeit zu gelangen.
Alain Caillé, Soziologe, verband Joseph Wresinskis Ansatz mit demjenigen von Marcel Mauss: Der Mensch braucht Anerkennung durch den Akt des Gebens. Den Menschen in Armut ist es untersagt zu geben. „Alles, was ohne uns gedacht wird, kehrt sich gegen uns“, erklärte Isabelle Pypaert Perrin, Generaldelegierte und Langzeitmitarbeiterin zum Abschluss. Das Verbinden von Wissen kann Veränderungen für alle bringen. Marie-Rose Blunschi
Wir waren rund zwanzig Mitglieder der Gruppe «Geschichte erforschen für die Zukunft der Kinder», die sich auf diese Begegnung vorbereitet und sich mit dem seit Februar laufenden Forschungsprogramm der UEK vertraut gemacht hatte. Die UEK muss die Gesetze jener Zeit und deren Anwendung prüfen, denn sie haben zahlreichen Kindern und Erwachsenen grosses Leid zugefügt. Ein Teil jener Opfer ist noch am Leben. Lesen Sie weiter...
Ebenfalls am 15. September nahm der Ständerat ein Gesetz an, das ehemaligen Verdingkindern und weiteren Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen (bis 1981) einen Wiedergutmachungs-beitrag gewährt. Das Gesetz wird am 1.April 2017 in Kraft treten. Eines unserer Mitglieder verfolgte die vorausgehende Debatte im Ständerat. Besonders erwähnenswert schien uns das Argument: „Auch heute noch werden die Armen durch die Vorenthaltung der Rechte besonders gefährdet. Das Gesetz, über das wir entscheiden, soll uns daran erinnern.“
Mehrere Mitglieder unserer Arbeitsgruppe waren selber Opfer von Zwangsmassnahmen. Andere befragen heute ihre berufliche Praxis angesichts von Fremdplatzierungen, die von einer Generation zur andern weitergehen.
Ein sehr bewegendes gefilmtes Interview mit einem armutserfahrenen Mitglied sowie Plakate zu einigen Forschungsbereichen hoben wichtige Aspekte hervor. In die Mitte traf auch die Frage einer betroffenen Frau: „Was für eine gemeinsame Geschichte verbindet diese je einmaligen Geschichten?“ Wir betonten, dass die Forschung auch den Eltern der damals fremdplatzierten Kinder und Jugendlichen Aufmerksamkeit schenken soll. Die Armut der Familie soll auch als Ursache und nicht nur als Folge der Heimeinweisung genannt werden.
Unsere Gäste Anne-Françoise Praz, Loretta Seglias und Joséphine Métraux zeigten uns, wie viel Aufmerksamkeit sie den Quellen schenken, um die Widerstandskraft der betroffenen Kinder zu erkennen. Zeugnisse davon finden sie besonders in deren Briefen, die oft von der Heimleitung zurückbehalten statt abgeschickt wurden. Sie sagten uns: „ Nach diesem Austausch werden wir die Etiketten, auf die wir in den Berichten stossen, noch kritischer hinterfragen… Es gehört zu unserer Aufgabe, mit andern ins Gespräch zu kommen und Informationen zu sammeln, so wie wir es hier über die Armut tun…und immer wieder von unserer Arbeit zu berichten…“
Nach diesem Treffen konnten zwei Mitglieder unserer Gruppe am 24. Oktober an einem Austausch in Bern über die Ziele und die verschiedenen Vorhaben zur Verbreitung der wissenschaftlichen Ergebnisse der UEK teilnehmen.
Caroline Petitat
Lesen Sie auch die Berichte auf der Webseite der UEK Administrative Versorgungen:
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über das Treffen vom 15. September in Treyvaux
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über den Austausch vom 24. Oktober in in Bern